
Was ist das Besondere an Besonderen Merkmalen ?
Ein Beitrag von Dr. Uwe-Klaus Jarosch, Juli 2025
Aufreger-Thema Nr 1 : Besondere Merkmale
In zahlreichen Branchen werden Besondere Merkmale (BMs) eingefordert.
Aber wozu und wann ?
Zwischen Entwicklern, die Besondere Merkmale auf die Zeichnung schreiben und den Menschen in der Fertigung, die dann mit den BMs umgehen und sie “erleiden” müssen, kommt es immer wieder zum Konflikt.
Das Ideal bedeutet: “So wenige wie möglich, so viele wie nötig”.
Hier sollen Kriterien dafür in aller Kürze vorgestellt werden, die “so viel wie nötig” begründet.
BMs sind keine Absicherung für den Designer.
BMs dienen ausschließlich dazu, im Herstellprozess Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auf Merkmale zu legen, die sonst eine nachfolgende Funktion gefährden würde.
Beispiele:
Das Material in der Antriebswelle muss auch die extremsten Beschleunigungen und Verzögerungen (Rekuperation) ohne Bruch aushalten. Dazu ist in der vorgegebenen Geometrie zwingend, dass das Material in den äußeren 3mm eine Mindest-Festigkeit aufweist, da dort die größten Lasten übertragen werden.
Tritt die Grenzlast auf und die Festigkeit des Materials ist nicht innerhalb der Vorgabe so droht ein Versagen der Antriebswelle.
Drei Bleche werden in der Nähe einer Schweißnaht durch eine Verschraubung zusammen und am Platz gehalten. Die Schweißnaht hat mit der Verschraubung eigentlich nichts zu tun. Aber erfahrungsgemäß können Schweißspritzer entstehen. Schweißspritzer wiederum in der Verschraubung führen dazu, dass die Vorspannkraft punkt- statt flächenförmig eingeleitet wird und sich die Schweißperle nachgibt und die Verschraubung ihre Vorspannkraft verliert und sich lösen kann. Es muss daher besonders darauf geachtet werden, dass die Verschraubungsfläche frei von Schweißspritzern ist.
In beiden Beispielen würde mein Produkt sich entweder nicht wie geplant herstellen lassen oder im Betrieb unerwartet versagen.
Beides darf nicht passieren.
Die möglichen Ursachen sind klar.
Mit Besonderen Merkmalen kann der Fokus auf diese Ursachen gerichtet werden. Die Gefahr, dass hier etwas schief geht, soll damit deutlich gemindert werden.
Nur dadurch, dass wir für dieses Merkmal eine Markierung in der Zeichnung machen oder ein Schild in die Fertigung stellen, ist noch nichts gekonnt.
Das, was in der Fertigung die grauen Haare wachsen lässt, sind die Maßnahmen, speziell die Überwachungen und Prüfungen zu diesen BMs.
Auch für diese Maßnahmen gilt aus meiner Sicht und Erfahrung: So wenig wie möglich, so viel wie möglich.
Mehr dazu in einem weiteren Blog.
Jetzt erst mal zurück zur Frage, wann Besondere Merkmale benötigt werden.
Wann liegt der Fakt vor, dass ein Merkmal besonders ist ?
Wir müssen uns über zwei Dinge klar sein:
1) Wenn wir über Besondere Merkmale sprechen, dann sprechen wir über konkrete Vorgaben mit klaren Spezifikationsgrenzen.
Die Aussage ist: Verlässt du diese Grenzen, so funktioniert mein Produkt nicht mehr sicher.
Vielleicht tritt ein Problem schon vorher auf und das Merkmal außerhalb der Spezifikation verhindert, dass sich das Produkt gesichert herstellen lässt.
2) Wir reden über konkrete Wenn-Dann-Beziehungen, über einen eindeutigen Zusammenhang zwischen diesem Besonderen Merkmal und einer Funktion, die in Folge nicht mehr sicher gegeben ist.
Es muss nicht jedes Teil oder jeder Produktionsschritt davon betroffen sein. Aber Fehler- und Ausschussraten im einstelligen %-Bereich sind für knapp kalkulierte Produkte und Prozesse ein Killer.

Umgekehrt können wir argumentieren:
Wenn wir ausschließen können, dass dieses Merkmal alleine zu dem oben angenommenen Fehler führt
oder wenn wir den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nur vermuten, aber nicht nachweisen können,
dann gibt es anscheinend keine so unmittelbare Auswirkung oder keine so direkte Ursache-Wirkungs-Beziehung, dass sich daraus ein Besonderes Merkmal ableiten lässt.
Aus Ingenieur-Sicht des Entwicklers muss ich zu den beiden Dingen Zahlen, Daten , Fakten vorlegen:
- Was ist der zulässige Toleranzbereich für mein Merkmal?
- Wenn ich diesen zulässigen Toleranzbereich ausnutze, wie ändert sich dann die Zielfunktion?
Welchen Anteil an der Toleranz der Zielfunktion beeinflusst dieses Merkmal? - Kann der Toleranzbereich des Merkmals dazu führen, dass die Zielfunktion ihre Spezifikationsgrenzen verlässt?
- Und führt diese Verletzung der Toleranzgrenzen bei der Zielfunktion zu einem Funktionsausfall?
Zahlreiche Toleranzgrenzen sind so festgelegt, dass sie weit weg liegen von einem Funktionsausfall. Wir sprechen dann von einem robusten Design. Aber wenn eine Toleranzverletzung keine Folgen hat, wieso muss das Merkmal dann als BM klassifiziert werden? - Eine weitere Frage an den Entwickler ist: Sind das betrachtete Merkmal und die resultierende Funktion korreliert?
Kann man eindeutig sagen: Wenn das Merkmal steigt, dann verhält sich die Funktion so.
Oder sieht man nur eine Wolke von schwankenden Einflüssen, z.B. weil andere Parameter ebenfalls oder vielleicht deutlich stärkeren Einfluss haben? Vielleicht hat unser betrachtetes Merkmal direkten Einfluss auf etwas ganz Anderes und dies hat dann indirekt Einfluss auf die betrachtete Zielfunktion. Dann liegt aber keine direkte Ursache-Wirkungs-Beziehung vor. Für diesen Zusammenhang ist unser betrachtetes Merkmal kein BM.
- Für diese Datenanalyse empfehle ich konkrete Grenzwerte.
Diese Grenzwerte sind Setzungen, aber sie helfen bei Entscheidungen.
Drei Grenzwerte, um von einem Besonderen Einfluss zu sprechen:
- Bei Durchlauf der Toleranz des betrachteten Merkmals verändert sich die Funktion um >50% ihres zulässigen Wertebereichs.
- Bei Durchlauf der Toleranz des betrachteten Merkmalsnähert sich die Funktion um weniger als 10% der Spezifikationsgrenzen zu einem Kipp-Punkt *.
- Die Ergebnisse der Funktion sind statistisch korreliert mit den Werten des betrachteten Merkmals. Der Korrellations-Koeffizient ist >= 0,7.
Bedingung 1 oder 2 UND Bedingung 3 müssen erfüllt sein.
* als Kipp-Punkt wird der Wert der Funktion bezeichnet, ab dem die Funktion irreversibel ist, z.B. bei Überschreiten von Festigkeitsgrenzen oder wenn der Schwerpunkt über die Kante wandert und das Teil abstürzt.
FMEA sichert das Produkt / den Prozess mit aller Kraft, mit „Brute Force“-Methode ab.
Wird nicht alles sorgfältig und im Detail betrachtet, klaffen sofort Lücken in der Betrachtung, die zwingend zu blinden Flecken für das Ergebnis führen.
Wie gravierend die Auswirkungen sind, kann leider erst im Nachhinein bewertet werden.
Eine FMEA, die ALLES betrachtet gibt es in der Realität nicht.
Ein gutes Stück weit ist daher die Funktions- und Fehleranalyse auch eine Entscheidung, was auf Lücke gesetzt wird.
Um nach dieser Logik Besondere Merkmale zu identifizieren, benötigen wir mehrere Schritte:
- Die Ursache-Wirkungs-Beziehungen müssen bekannt sein oder ermittelt werden. Das Fehlernetz der FMEA kann hier bei guter Übertragung der Physik hier die Information liefern.
- Im Netz der Ursache-Wirkungs-Beziehungen kann eine Folge mehrere Ursachen haben.
Hier gilt es zu entscheiden und zu unterscheiden, welche U-W-B, welche Verbindung im Fehlernetz der FMEA einen Besonderen Einfluss aufzeigt. Dazu sind die oben genannten 3 Bedingungen abzufragen. Großer Einflussanteil am Wertebereich der Funktion oder Nähe zum Kipp-Punkt UND die klare Abhängigkeit der Wirkung von dieser Ursache muss deutlich sein. - Im Fehlernetz der FMEA, das zu nutzen ich dringend empfehle, sind die Bedeutungen (Bmax) ersichtlich. die Bedeutung B sollte Mindestwerte haben und damit den Typ des Besonderen Merkmals bestimmen.
B=6 -> dauerhaft fertigungsrelevant -> HI , teuer
B=7,8 -> Hauptfunktion des Produkts ist gefährdet -> SC, BM-F
B=9 -> Konflikt mit Gesetzen, Verordnungen, Kundennormen, Zulassung -> Legal, BM-Z
B=10 -> Gefahr für Leib und Leben -> CC, BM-S, Arbeitssicherheit - Die Ziel-Funktion selbst muss für das Ergebnis wesentlich sein. Warum sollen BMs festgelegt werden für etwas, was unwesentlich ist. Die Ziel-Funktion sollte im Fehlernetz aufwärts ebenfalls das Kriterium Besonderer Einfluss erfüllen oder vom Kunden als Besonderes Merkmal gefordert sein.

Wenn wir die FMEA mit einbeziehen, gibt es noch eine gedankliche Brücke zu bauen:
Besondere Merkmal sind Klassifizierungen der Funktionen, wobei Merkmale eine Unterart der Funktionen sind.
Im Fehlerbaum werden aber keine Funktionen oder Merkmale behandelt, sondern Abweichungen von Funktionen und Merkmale außerhalb der Spezifikation.
Die Betrachtung im Fehlerbaum ist sehr viel detaillierter und damit auch i.d.R. vollständiger als der Funktionsbaum. Dies ist damit begründet, dass eine Funktion oder ein Merkmal mehrere Fehler haben kann. Und jeder Fehler kann seinerseits sowohl mehrere Folgen im Netz als auch unterschiedliche Ursachen haben. Damit entsteht sowohl zu den Folgen und deren B-Bewertung als auch zu den eigentlichen Knackpunkten im Design und im Prozess, den Ursachen das korrekte Bild.
Also müssen wir die Fehlerbeziehungen auf ihren besonderen Einfluss untersuchen.
Ist dann mindestens 1 Fehler von besonderem Einfluss, dann ist es auch die zugehörige Funktion im Funktionsnetz.
Dies erlaubt dann sinnvolle Analyse und Zuweisung von BMs.
Fazits:
- Diese wenigen Regeln bilden die vollständige Logik ab, um sicher und begründet Besondere Merkmale festzulegen.
- Die Idee, Filter in unterschiedlichen Entwicklungsphasen und separat für Design und Prozess zu definieren, wird dadurch konkretisiert und an den physikalischen Zusammenhängen bewertbar.
- Mit den vorgeschlagenen Werten lassen sich Diskussionen eindeutig entscheiden.
Die Zahlen können betriebsspezifisch variieren, aber sie führen weg von Meinung, Schätzung, Bauchgefühl hin zu Zahlen, Daten , Fakten. - Die FMEA dient hervorragend als technisch-geistige Vorlage, sofern dort wirklich die Physik oder Chemie des Produkts und des Fertigungsprozesses beschrieben wird.
- Eine Frage bleibt an dieser Stelle noch unbeantwortet:
Welche Maßnahmen, welche Prüfschärfe, welche Fähigkeitsforderungen sind für die BMs nötig?
Bleiben sie neugierig.
Uwe Jarosch