Wie funktioniert das mit den Maßnahmen in der FMEA?

Zur Einordnung der Vermeidungs- und Entdeckungsmaßnahmen in der Entwicklung von Produkten und Prozessen.

Ein Beitrag von Dr. Uwe-Klaus Jarosch, Juli 2025

Kurz die Grundidee der FMEA zur proaktiven Risikominderung:
Wir haben im Team überlegt, was wir uns genau anschauen wollen, haben dazu eine Strukturanalyse durchgeführt, in der die zu betrachtenden Systeme, Teilsysteme, Baugruppen, Verbindungen, Einzelteile, Prozessschritte und Ursachen aufgedröselt sind. Dann haben wir diesen Systemelementen ihre Aufgaben = Funktionen zugeschrieben und überlegt, was bei der Erfüllung dieser Aufgaben schief gehen könnte. Diese beiden Schritte nennen wir Funktions- und Fehleranalyse. Beide enden damit, dass wir ein Netz zwischen möglichen Fehlerfällen der diversen Systemelemente knüpfen, um mit dem Teamwissen Ketten von Ursachen zu Wirkungen aufzubauen.

Murphy:  What can happen will happen

Über die Funktionen als Zielvorgabe sind wir uns gewiss.
Die Fehler müssen nicht eintreten, aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit werden sie eintreten, um so häufiger, je weniger das Entwicklungsteam dagegen unternimmt.
               Murphy:  What can happen will happen.

Das, was das Entwicklungsteam unternimmt, steckt in den Maßnahmen. Davon kennen wir in der Regel 2 Typen: die vermeidenden und die entdeckenden Maßnahmen.

Wenn einer dieser potentiellen Fehler auf einer der oberen Ebenen des Strukturbaums auftritt, wenn also das Produkt nicht so funktioniert, wie es soll oder aus dem Prozess was rauskommt, das so nicht gewollt, gewünscht, gebraucht wird, dann sehen wir eine Wirkung der Fehlerkette und betrachten ein Symptom, wie ein Niesen ein Symptom ist für eine mögliche Erkältung oder durch einen anderen Reiz ausgelöst wurde.
Für den externen oder den internen Kunden stellt dieses Symptom das Problem dar.
Für das Spezialisten-Team geht es aber darum, die Ursachen des Symptoms zu ermitteln und abzustellen.

Wenn wir wollen, dass dieses Symptom nicht mehr auftritt, müssen wir verstehen, warum es aufgetreten ist. Nur dann können wir wirksame Maßnahmen ergreifen.

Was sind wirksame Maßnahmen ?

1) Wirksame Maßnahmen kennen die Wurzel des Übels, also die Grundursache.

2) Wirksame Maßnahmen sind Handlungen, die vermeiden, dass die Grundursachen wirksam werden. Das können vermeidende Maßnahmen sein, z.B. eine konstruktive Änderung, ein Schutz vor Fehlern im Prozess, ein Poka Yoke.

3) Das können aber auch entdeckende Maßnahmen sein, die einen ursächlichen Fehler nicht ausschließen, aber mit einer möglichst hohen Sicherheit entdecken, wenn es passiert ist und dann eine Reaktion auslösen.

4) Oder es ist eine Kombination aus Vermeiden und Entdecken, ein Regelkreis:  Die Entdeckung gibt Information, was das Produkt kann, wo der Prozess steht und die vermeidende Maßnahme nutzt diese Info, um geeignet zu reagieren, um als Regler zu fungieren. So ein Regelkreis hat dann mindestens 2 , möglichst gleichwertige Maßnahmen, die gemeinsam die Ursache, vielleicht auch erst das Ergebnis der nächsten Stufe im Ziel halten.

Gegen die Grundursachen

Der Begriff Grundursache ist für die FMEA wichtig und benötigt ein gemeinsames Bild im Team: 
Wenn sie mit der Why-Why-Why-Kette auf Ursachen-Suche gehen, dann können sie eine never-ending-story kreieren.  Und das Fehlen einer Briefmarke wird zur Ursachen für den Crash des Unternehmens.
Das ist für die Lösung einer technischen oder prozessualen Aufgabe, wie sie üblicherweise mit einer FMEA untersucht wird, nicht zielführend.

Bei der Grundursache kann man 3 Fälle klar unterscheiden:

  • In der System-Betrachtung geht es um Aufgaben in der nächsten System-Ebene. Die unterste Ebene möchte ich mit dem Begriff des „Lastenhefts“ kategorisieren. Dort ist die Liste von allen Funktionen und Anforderungen aufgeschrieben, die die nächste Arbeitsgruppe, ggf. mein Entwicklungslieferant, erfüllen soll. Und es sollte ergänzt werden durch die Maßnahmen, die erst bei der System-Integration , z.B. nach dem Zusammenbau aller Teilsysteme, wirken oder möglich sind.
  • In der Design-FMEA werden die Details des Produkts entwickelt. Die Entwicklung hat als Ursache die Festlegung der Produktmerkmale, die auf die Zeichnung kommen. Die funktionsgerechte und herstellbare Definition der zahlreichen Produktmerkmale stellt die unterste Handlungsebene dar. In Einzelfällen kann dies auch noch Prozessmerkmale betreffen, die vom Design mit festgelegt wurden.

In der Prozess-FMEA werden die Produktmerkmale „hergestellt“. Sie sind das Ergebnis in der Fokus-Ebene (zweit-unterste Ebene). Die Ursachen im Prozess lassen sich mit den 4Ms (Mensch, Maschine, Material, Mitwelt) kategorisieren. Dort sind es IMMER Prozessmerkmale, Einflüsse in den Prozess, die es zu beherrschen gilt.

Was sind die möglichen Fehler auf  Ursachen-Ebene?

  • In der System-FMEA kann die Funktion oder Anforderung für die nächste Ebene falsch, unvollständig, unverständlich, nicht festgeschrieben und übermittelt sein.

  • In der DFMEA geht es um die sinnvolle Festlegung der Produktmerkmale und – wo nötig – einiger Prozessmerkmale. Diese können aus meiner Sicht die übergeordnete Funktion nicht erfüllen und/oder die Herstellbarkeit / Machbarkeit beeinträchtigen. Was nützt es, wenn das Produkt nur als goldenes Teil funktioniert oder sich die geforderten Toleranzen nicht mit den vorgesehenen Mitteln und Kosten einhalten lassen. Die Entwicklung eines Produktes ist an vielen Stellen eine Kompromissfindung, die sich in diesen Kategorien ausdrückt.
    Der Fehler „Merkmal außer Toleranz“ ist im Design irrelevant. Sowas kommt nur im Prozess vor.

  • Im Prozess sind wir in der Umsetzung. Alle Merkmale, sowohl die der Ergebnisse, als auch die Prozessmerkmale sind vorgegeben, befinden sich vielleicht noch im Optimierungsstadium. Dann ist „Merkmal außer Toleranz“ relevant. Allerdings hängt es von der Art des Merkmals ab: Zweiseitig begrenzte Merkmale können zu groß oder zu klein sein, einseitig begrenzte zu groß oder zu klein. Attributive Merkmale, bei denen nur nach ok und NOK unterschieden wird, sind außer Toleranz. Aber eine Lehre für Größt- und Kleinstmaß gibt wieder Auskunft zu „zu groß“ und zu „zu klein“.
    Das ist wichtig, da „zu groß“ und „zu klein“ sowohl unterschiedliche Folgen haben, auf Fokus-Ebene auch unterschiedliche Ursachen. Und für die Prozessmerkmale muss anders reagiert werden, je nach Grenzbedingung.
    Für die Prozessmerkmale kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Um den Prozess dauerhaft am Laufen zu halten, ist die Kategorie der Warn- und Eingriffsgrenzen eingeführt worden. Dabei ist das Ergebnis noch nicht gefährdet. Aber mit der nötigen Reaktionszeit erzeugt die gesetzte Warngrenze oder die dynamisch bestimmte Eingriffsgrenze den Auslöser für Reaktionsmaßnahmen, um innerhalb der Spezifikationsgrenzen der Prozessparameter bleiben zu können.

Soweit alles klar ?

Nach der aktuellen FMEA Methodik[1] muss sich die vermeidende Maßnahme IMMER auf den potentiellen Fehler auf Ursachen-Ebene beziehen. Keine Symptom-Bekämpfung erlaubt.

Bei den entdeckenden Maßnahmen, also Messungen, menschlichen Bewertungen, Prüfungen[2] sieht die Methodik vor, dass alternative oder ergänzend die Ursache und/oder das Ergebnis der nächsten Ebene (Fokus-Ebene) bewertet wird.

[1] Bezug auf AIAG/VDA FMEA Handbuch (2019)

[2] Die Prüfung ist eine Kombination aus Messung oder Bewertung und deren Vergleich mit einer Sollwertgrenze, um i.O. von n.i.O. zu unterscheiden.

Das ist dadurch begründet, dass u.U. nicht alle Einflüsse bekannt, betrachtet, relevant,  verstanden oder beherrscht sind. In solchen Fällen reicht es nicht aus, die benannten Ursachen alle zu betrachten. Zusätzlich muss ich mir das Ergebnis der nächsten Ebene betrachten. Im Design ist das die geforderte Funktion einschließlich ihrer Nebenbedingungen[3]. Im Prozess ist es das Produktmerkmal, das als Ergebnis nach dem Prozessschritt vorliegt.

Sowohl für Vermeidung als auch für Entdeckung können mehrere Maßnahmen nötig sein. Diese Maßnahmen wirken gemeinsam, vielleicht zu unterschiedlichen Zeiten, aber wenn eine Maßnahme fehlen würde, wäre das bewertbar schlechter.

In der heutigen Methodenbeschreibung wird dann eine Bewertungszahl gebildet.
Die erste Bewertungszahl bewertet die Wirkung aller Vermeidungsmaßnahmen und wird als Auftreten A bezeichnet.
Die zweite Bewertungszahl bewertet die Wirksamkeit aller Entdeckungsmaßnahmen und wird als Entdeckung E bezeichnet.

[3] Diese mitgeltenden Anforderungen beschreiben nicht, wozu ich etwas mache oder brauche, aber es gibt Grenzen an, deren Verletzung auch als Fehler empfunden werden.

Bei der Erarbeitung der FMEA sind die meisten Maßnahmen noch in Planung[4]. Die Bewertung von A und E ist daher ein „educated guess“, eine Schätzung auf Grundlage von Erfahrungen.

Es gibt Kriterien in den Bewertungskatalogen, um A und E zwischen 1 für „absolut sicher“ bis 10 für „keine wirksame Maßnahme vorhanden“ abzuschätzen.
Persönliche Erfahrungen und „politische“ Überlegungen[5] machen diese Bewertung immer subjektiv.

[4] Andernfalls ist die FMEA zu einem Zeitpunkt in Arbeit, wo alle Entscheidungen getroffen sind und es geraten ist, sich die Arbeit zu sparen.

[5] Möchte ich möglichst gut dastehen oder will ich „Worst Case Szenarien“ realistisch abbilden oder neige ich zum systematischen „Schwarzmalen“?

Es bleiben einige Fragen unbeantwortet:

  1. Wenn die Entdeckung der Folge auf Fokus-Ebene und der Ursache durch mehrere Entdeckungsmaßnahmen gemeinsam bewertet werden im E-Wert, was bewertet dann diese Zahl ?
    Den Schlupf bei den Prozessmerkmalen oder den Schlupf beim Produktmerkmal?
  2. Bilden die Entdeckungen für die Ursachen nicht immer eine auch zeitlich vorgelagerte Absicherung für die Ergebnisse, egal ob Funktion im Produkt oder Produktmerkmal im Prozess? Und sind dann diese Entdeckungen der Ursachen nicht eher Vermeidungsmaßnahmen für die nächst höhere Ebene ?[6]
  3. Wie wird die Wirkung in einem Regelkreis dabei bewertet, also das Zusammenwirken von Entdeckung und Vermeidung?
  4. Wäre es nicht nötig, die Qualität von Messung/Prüfung auf Ursachen- und auf Fokus-Ebene separat zu betrachten und zu bewerten?
  5. Wie soll damit umgegangen werden, wenn die identische Entdeckungsmaßnahme sowohl für Ursache als auch für Wirkung angezogen wird[7]?
  6. Und wie werden die geforderten Prüfungen dabei einbezogen, die weder auf Ursachen- noch auf Fokus-Ebene, sondern weiter oben an Teil- oder Gesamtsystemen durchgeführt werden? Was an Details auf den unteren Ebenen kann mit diesen Prüfungen überhaupt noch entdeckt werden? Und gehen solche Prüfungen in die E-Bewertung auf Ursachenebene mit ein?
  7. Wie gehen wir mit Zufallsfunden um?[8]
  8. Wie sind Audits zu bewerten?[9]
  9. Wie detailliert muss eine Prüfplanung vorliegen, um die Wirksamkeit der EM bewerten zu können? Welche Rolle spielt die Herkunft von Prüfmustern, die Stichprobengröße und die Häufigkeit der Prüfung? Auch die Qualität und Eignung von Prüfmitteln und Prüfsystemen hat Einfluss auf die Entdeckungswahrscheinlichkeit.
  10. Wann ist es gerechtfertigt, ein E=1 zu vergeben, also eine unfehlbare EM ohne Schlupf anzunehmen?

[6] Dies ist eine grundsätzliche Frage. Teams bewerten intuitiv die Wirkung der Maßnahme und unterscheiden dann nicht mehr zwischen der Erhebung von Informationen (EM) und der Nutzung der Informationen (VM). Damit wird aber die Definition von EM und VM aufgehoben, was in einigen Branchen auch praktiziert wird. Z.B. in der Medizintechnik wird nicht zwischen EM und VM unterschieden.
Ich persönlich habe gute Erfahrungen mit einer strikten Trennung. Dann kann ich das Maßnahmen-Bündel genau identifizieren, das für Vorbereitung, Feststellung und Reaktion nötig ist.

[7] Dieser Fall ist einfach zu beantworten: Dieser Fall ist physikalisch-technisch unmöglich und muss in 2 Entdeckungsmaßnahmen aufgespalten werden. Das führt dann wieder zu den Fragen 1 und 4.

[8] Auch dieser Fall ist einfach:  Zufallsfunde sind für die FMEA-Betrachtung irrelevant. Wir betrachten nur geplante Entdeckungsmaßnahmen.  Wenn der Rundgang des Chefs verlässlich jeden Morgen stattfindet und während des Urlaubs von seinem Stellvertreter durchgeführt wird, dann ja: das ist eine geplante EM.

[9] Hier gehen die Meinungen auseinander, obwohl es klare Empfehlungen gibt: Audits sind geplante Prüfungen, allerdings dienen sie i.d.R. der Prüfung der Arbeitsweisen, nicht der konkreten Ergebnisse. Daher eignen sie sich nicht als spezifische, qualitätssichernde Maßnahme, die den Schlupf der EM verringert.

Fazit: 

  • Manches wird auch unscharf bleiben, da neben der Beschreibung der Maßnahme noch deren Bewertung eine nennenswerte Schwankungsbreite aufweist.

  • Manches ist schlicht nicht bekannt und wird nur aufgrund von Vermutungen oder Hoffnungen eingetragen und bewertet.

  • Aber mit der Logik der FMEA muss man feststellen:  Die Probleme haben ihre Ursache immer im Detail.

 

Bleibe neugierig.
Uwe  Jarosch

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